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Eine kurze Einführung in die Polyvagal-Theorie

Meistens wirkt die Aktivität des Parasympathikus entspannend – zu viel davon kann aber auch alles lahmlegen. Stephen Porges beschäftigte sich mit dieser Doppelrolle des Entspannungsnervs. Mit seiner Polyvagal-Theorie erweiterte er das Verständnis des vegetativen Nervensystems.

Auch wenn es in unserem Alltag meistens nicht mehr um das schiere Überleben geht, reagiert unser vegetatives Nervensystem (VNS) noch immer nach dem alten Muster unserer Vorfahren. Es versucht ständig, Anzeichen für Sicherheit oder Gefahren in unseren Alltag zu erkennen, um dann darauf zu reagieren.

In den meisten Lehrbüchern werden dem VNS nur zwei Handlungsmuster zugeschrieben: Anspannung und Entspannung. Stephen W. Porges, Professor für Psychiatrie und Biomedizintechnik aus den USA, war nicht nur einer der Pioniere bei der Anwendung der Herzratenvariabilität (HRV) in der Psychophysiologie. Mit seiner Polyvagal-Theorie räumt er dem VNS noch ein drittes Reaktionsmuster ein.

Die 3 Reaktionsmuster

In der Polyvagal-Theorie werden dem VNS drei Reaktionsmuster zugeschrieben. Im Buch von Deb Dana wird der Begriff der autonomen Leiter verwendet. Ich halte ihn für eine gute Beschreibung, weil die Zustände sich aufeinander auf- und wieder abbauen können. Sie wechseln sich im täglichen Leben ab. Solange der Wechsel stattfindet, ist nicht mit gesundheitlichen Folgen zu rechnen. Bei zunehmender Gefährdung nutzt das VNS die Reaktionsmuster auch für unser Überleben.

Die Doppelrolle des Parasympathikus

Wenn Sie noch keine Berührungspunkte mit der Polyvagal-Theorie hatten, werden Sie sich bestimmt über das sehr unterschiedliche Wirken des Parasympathikus wundern. Auch Stephen Porges dachte am Anfang, viel parasympathischer Einfluss kann nur gut sein, bis er mit einem Fall konfrontiert wurde, der ihn zwang, sich intensiver mit dem Parasympathikus auseinanderzusetzen. Für die zwei sehr unterschiedlichen Wirkweisen, fand er vor allem in der Anatomie des Parasympathikus eine Erklärung.

Der wichtigste Nerv des Parasympathikus ist der Vagus, der 10. Hirnnerv. Sein großes Verbreitungsgebiet brachte ihm nicht nur den Namen “umherschweifender Nerv” ein, sondern lässt schon erahnen, dass er vielleicht an weit mehr Abläufen im Körper beteiligt ist als die Wissenschaft bis dahin dachte.

Stephen Porges unterteilt in seiner Theorie den Vagus-Nerv in einen vorderen (ventralen) und einen hinteren (dorsalen) Ast. Beide entspringen in benachbarten Gebieten im Hirnstamm.

Ganz grob kann man sich merken, dass der vordere Ast sich eher nach oben Richtung Kopf bewegt und der hintere eher nach unten. Nur Herz und Lunge, also der Blutkreislauf und die Atmung, werden von beiden beeinflusst.

Der vordere Vagus-Ast

Die enge, teilweise anatomische Verbindung zu vier Hirnnerven (V, VII, IX und XI) erklärt, auf welche Reaktionsmuster der vordere Vagus-Ast reagiert. Es handelt sich um Informationen, die wir aus unserer unmittelbaren Umgebung mit unseren Sinnen wahrnehmen. Aus den Eindrücken, was wir hören, sehen, riechen und schmecken, kann das VNS abwägen, ob wir uns sicher fühlen können oder in Gefahr befinden.

In manchen Büchern wird der vordere Vagus-Ast als “neuer Vagus” bezeichnet. Als Erklärung dient, dass es ihn in der Entwicklungsgeschichte des VNS noch nicht so lange gibt wie den hinteren Vagus-Ast.

Der hintere Vagus-Ast

Das Haupteinflussgebiet des hinteren Vagus-Asts liegt unterhalb des Zwerchfells. Seine Fasern ziehen zu Magen, Leber, Bauchspeicheldrüse, Milz und zu Teilen des Dickdarms. Im nicht aktivierten Zustand übernimmt er die Steuerung der Verdauung.

Die Bezeichnung alter Vagus bezieht sich auf die evolutionäre Entwicklung des VNS, das sich von den Reptilien zu den Säugetieren stufenweise weiterentwickelte. Man kann sich das Reaktionsmuster des hinteren Vagus-Astes als einen Überlebensmechanismus vorstellen. Deb Dana schreibt in ihrem Buch “Die Polyvagal-Theorie in der Therapie” (Seite 36): “Seine Reaktion wirkt schmerzstillend und schützt vor physischem und psychischen Schmerzen.” Eine wichtige Schutzmaßnahme des Körpers, wenn es ums Überleben geht.

Ständige Anpassung als Schutz

Obwohl wir es nicht bewusst mitbekommen, wacht das VNS über unsere Sicherheit, ganz gleich was wir gerade machen. Stephen Porges prägte für dieses Funktionsprinzip den Begriff Neurozeption. Stanley Rosenberg beschreibt es in seinem Buch “Der Selbstheilungsnerv” (Seite 106) als einen guten Wachhund, “der ständig aufpasst und es uns ermöglicht, tief zu schlafen oder uns auf andere Dinge als das Überleben zu konzentrieren, und der uns weckt, wenn Eindringlinge uns gefährden könnten.”

Das Signal der Neurozeption setzt die drei Reaktionsmuster in Gang:

Wenn die drei Bestandteile des VNS sich immer wieder abwechseln, dann fühlen wir uns wohl in unserer Haut. Für Herausforderungen im Beruf oder im Privatleben steht ausreichend Energie zur Verfügung.

Die Neurozeption kann auch falsch verlaufen, dann reagieren Menschen in einer sicheren Situation so als wenn sie für sie bedrohlich wäre. Die Gründe für eine falsche Neurozeption können vielfältig sein. Meist gibt einen Auslöser, wie Stanley Rosenberg in seinem Buch (Seite 107) schreibt: “[…] der uns an ein traumatisches Ereignis in der Vergangenheit erinnert – und wir reagieren darauf, als würde es in der Gegenwart stattfinden. Wir mögen gar nicht tatsächlich bedroht oder gefährdet sein, doch unser Nervensystem kann in der Vergangenheit festhängen, bereit beim geringsten Auslöser aus der Umgebung zu kämpfen oder wegzulaufen.”

Eine Chance für Trauma-Patienten

Die Polyvagal-Theorie kann die Erklärung für das “Warum” von Verhaltensweisen liefern. Die Tatsache, dass Handlungen geschehen, ohne dass unser Verstand ihnen einen Sinn zuschreibt, hilft Patienten und Therapeuten gleichermaßen. Betroffene werden entlastet, da sie an ihrem Verhalten nicht selbst schuld sind. Therapeuten liefert die Polyvagal-Theorie die Möglichkeit, ihren Patienten in ein anderes Reaktionsmuster zu führen.

Stephen Porges fand in seinen Experimenten mit kranken und traumatisierten Menschen heraus, dass sich das Social-Engagement-System (SES) mit frequenzmodulierter (klanglich angepasster) Musik aktivieren lässt. Zur Art der Musik schreibt Stephen Porges in seinem Buch “Die Polyvagal-Theorie” (Seite 258): “Musik im Frequenzbereich der menschlichen Stimme jedoch aktiviert viszerale und emotionale Zustände, die weder mit drohenden Unheil noch mit einem Gefühl akuter Sorge assoziiert sind.”

In den Büchern von Deb Dana, Peter Levine und Stanley Rosenberg finden sich viele Übungen und Arbeitsblätter, um körperliche und seelische Belastungen wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

HRV-Parameter als Hinweise für ein Trauma?

Gleich vorne weg möchte ich festhalten: Mit der Herzratenvariabilität (HRV) können Sie kein Trauma diagnostizieren. Die HRV-Parameter geben wohl ein paar Hinweise, die aber nur zusammen mit psychopathologischen Untersuchungen genutzt werden sollten.

Ein Indiz für eine emotionale Übersteuerung des dorsalen Vagus ist sehr viel Aktivität im High Frequency-Bereich. Unterhalb dieses Frequenzbandes, also im LF- und VLF-Bereich, fehlt sie oder ist sehr vermindert.

Mehr zur Polyvagal-Theorie erfahren

Ich habe fast drei Jahre gebraucht, um mich inhaltlich mit der Polyvagal-Theorie intensiver auseinander zu setzen. Lange Zeit gab es nur ein Standardwerk von Stephen Porges, das es Einsteigern nicht gerade leicht gemacht hat.

Die Bücher, die in letzter Zeit erschienen, sind weniger wissenschaftlich und eher verständlicher geschrieben. In den Büchern von Deb Dana und Stanley Rosenberg wird immer wieder auf Schriften von Stephen Porges, aber auch auf persönliche Erlebnisse Bezug genommen. Beide Bücher haben ein Vorwort von Stephen Porges.

Die Kritik an den Lehrsätzen der Polyvagaltheorie sind mir zwar aufgefallen, z. B. von Paul Grossman, aber noch habe ich mich nicht richtig damit beschäftigt.

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